Kompetenzen und Mittelalter

Ein kurzer Text, der das Mittelalter im Kerncurriculum verortet.

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Deutsch-Kompetenzen und Mittelalter

Ideen zur Platzierung der Mediävistik im heutigen Unterricht

Mittelalterliche Literatur hat an Schulen einen schweren Stand. Wirft man einen Blick in die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz und ihre Umsetzungen in länderspezifischen Curricula – die maßgeblichen Rahmenrichtlinien für Unterricht an deutschen Schulen – so wird man auf der Suche nach dem Schlagwort „Mittelalter“ vor allem im Geschichtsunterricht fündig. Selbst Grundschüler*innen können und sollen sich im Sachunterricht mit seinen historischen Bedingungen auseinandersetzen. Im Deutschunterricht ist eine Auseinandersetzung mit Sprache und Literatur der Epoche dagegen vielfach erst in der gymnasialen Oberstufe vorgesehen. 
Das hessische Kerncurriculum für die gymnasiale Oberstufe etwa schlägt für den Kompetenzbereich „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“ vor, dass sich Schüler*innen mit „Motiven, Themen und Strukturen literarischer Schriften“ vergleichend auseinandersetzen, „die auch über Barock und Mittelalter bis in die Antike zurückreichen“[1] können, und übernimmt darin die Forderung der KMK-Bildungsstandards wörtlich. Teil einer dezidiert diskursiven Auseinandersetzung mit historischer Dramatik und Lyrik ist daneben das verbindliche Themenfeld „Liebeslyrik aus verschiedenen Zeiten“[2], das jedoch ebenfalls nur exemplarisch auf die Literatur des Mittelalters verweist („zum Beispiel Mittelalter, Barock bis zur deutschsprachigen Populärmusik der Gegenwart“).
Der Blick in die Lehrpläne anderer Bundesländer illustriert ähnliche Marginalisierungen, wenn mittelalterliche Literatur hierin vor allem als Lerngegenstand der gymnasialen Oberstufe verhandelt wird. Der Lehrplan des Landes Rheinland-Pfalz, der detaillierte inhaltliche Rahmungen entwickelt, stellt das Mittelalter im Deutschunterricht als einen von dreizehn optionalen Themenschwerpunkten vor.[3] Im Lehrplan des Saarlandes zieht es sich weiter auf die Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe zurück, soll hier aber verpflichtend thematisiert werden (mindestens vier Texte, darunter zwei Gedichte).[4] Der Bildungsplan des Landes Bremen schließlich hat das Mittelalter gänzlich aus dem Deutschunterricht verbannt.[5]
Der Würzburger Deutschdidaktiker Dieter Wrobel identifiziert die Ursachen solcher Desiderate vor allem in Bildungsreformen, die die Achtundsechziger angestoßen hatten. Die Instrumentalisierung des Mittelalters für die „völkische“ Ideologie des Nationalsozialismus wurde aufgearbeitet, indem neben der problematischen Rezeptionsgeschichte auch die historischen Texte selbst sukzessive aus schulischen Kanones und Bildungsplänen verbannt wurden.[6] Daneben ist mit dem Neugermanisten Hubertus Fischer in jener Zeit auch eine „Linguistisierung des Deutschunterrichts“ festzustellen, in deren Kontext auch ältere deutsche Literatur zugunsten sprachwissenschaftlicher und didaktischer Überlegungen verschwindet.[7]
Trotz ihres gegenwärtigen Nischendaseins ist eine unterrichtliche Beschäftigung mit den literarischen Texten des Mittelalters durchaus im Sinne der KMK-Bildungsstandards zu legitimieren. Die modernen Lehrplänen zugrundeliegende Kompetenzorientierung erweist sich als hilfreiches Instrument für Lehrkräfte, die in ihrem Unterricht die Potenziale mittelalterlicher Texten nutzen möchten, obwohl dieselbe immer wieder als unvereinbar mit den ästhetischen Ansprüchen historischer Literatur dargestellt wird.[8] Denn Output-orientierte Lehrpläne entwickeln Kompetenzstandards vor allem als zu erreichende Zielvorstellungen  – auf welchem Weg, d.h. mithilfe welcher Materialien und Lehr-/Lernmethoden diese Ziele erreicht werden, ist an vielen Stellen jedoch den schulinternen Curricula und ihrer verantwortlichen Umsetzung durch Lehrkräfte selbst überlassen. Abhängig davon, wie engmaschig die inhaltlichen Rahmungen der länder- und stufenspezifischen Bildungspläne formuliert sind, eröffnen sich in dieser Perspektive zahlreiche Spielräume für den Einsatz von mittelalterlicher Literatur im Deutschunterricht.
Mit dem exemplarischen Blick auf das hessische Kerncurriculum für die Sekundarstufe I könnten die Zielvorstellungen „zentrale Aussagen eines Textes wiedergeben“, „Aussagen mit Textstellen belegen“ oder „Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Texten erklären“[9] anstelle von Texten der Gegenwartsliteratur so auch anhand von geeigneten Texten quer durch die Literaturgeschichte erarbeitet werden. Selbstverständlich stellt die umsichtige Auswahl und Aufbereitung der Textgrundlage hier eine besondere Verantwortung von Lehrkräften dar. Fragen eines Deutschunterrichts am historischen Text sollten mit Blick auf die individuellen Lernvoraussetzungen von einzelnen Klassen und Schüler*innen diskutiert werden. Im Sinne der Elementarisierung komplexer Lerngegenstände können so Kürzungen, Lektürehilfen sowie Nach- und Neuerzählungen den Zugang zu mittelalterlichen Texten schon vor der Sekundarstufe II, auch abseits des Gymnasiums ebnen – und dabei die spezifischen Vorteile von historischen Texten für literarisches Lernen nutzbar machen. 
Dazu sind verschiedene Argumente angeführt worden. Das große motivationale Potenzial von mittelalterlichen Texten ist eines davon. ‚Der Herr der Ringe‘, ‚The Witcher‘, ‚Game of Thrones‘ – Populäre Mittelalterbilder sind schon seit geraumer Zeit kaum aus Filmen, Spielen und Büchern wegzudenken. Die meisten Schüler*innen kommen also immer wieder in Kontakt mit verbreiteten Vorstellungen von der Epoche. Auch der Deutschunterricht kann an solche Bilder anknüpfen, um sie an historischer Literatur und ihren Imaginationen zu diskutieren sowie damit kontrastiv auch unsere Gegenwart zu beleuchten. In gleicher Weise ermöglichen mittelhochdeutsche Texte auch sprachgeschichtliche Reflexionen auf das Neuhochdeutsch unserer Gegenwart. In ihrer Fremdheit leistet mittelalterliche Literatur also einen Beitrag zum „Literaturhistorischen Bewusstsein“[10] von Schüler*innen und ermöglicht den Blick auf die Wurzeln deutschen wie europäischen Kulturguts. 

Zur weiteren Lektüre

  • Feistner, Edith / Karg, Ina / Thim-Mabrey, Christiane: Mittelalter-Germanistik in Schule und Universität: Leistungspotenzial und Ziele eines Faches, Göttingen: V&R unipress, 2006.
  • Schwinghammer, Ylva: Das Mittelalter als Faszinosum oder Marginalie? Länderübergreifende Erhebungen, Analysen und Vorschläge zur Weiterentwicklung der Mittelalterdidaktik im muttersprachlichen Deutschunterricht, Frankfurt am Main: Internationaler Verlag der Wissenschaften, 2013 (Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit 7).
  • Wrobel, Dieter: Texte der Vormoderne im Deutschunterricht: Anmerkungen aus Fachdidaktischer Perspektive, in: Tomasek, Stefan / Wrobel, Dieter (Hg.): Texte der Vormoderne im Deutschunterricht: Schnittstellen und Modelle, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2013, S. 31-48.

Lukas Schrage


[2] Ebd.
[6] Vgl. Wrobel, Dieter: Texte der Vormoderne im Deutschunterricht: Anmerkungen aus Fachdidaktischer Perspektive, in: Tomasek, Stefan / Wrobel, Dieter: Texte der Vormoderne im Deutschunterricht: Schnittstellen und Modelle, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2013, S.32f.
[7] Fischer, Hubertus: Gegenwart und Mittelalter, in: Praxis Deutsch 11 (1984), H. 66, S.12.
[8] Vgl. etwa Richter, Karin: Lebendige Klassik und verjüngte Antike: Interpretationen und Modelle zu klassischen und mythologischen Texten, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2019, S. 1-19.
[10] Spinner, Kaspar H.: Literarisches Lernen, in: Praxis Deutsch 33 (2006), H. 200, S. 6-16.